Böhm-Chronik
Hand- und Hausweber
Wie es zu Urgroßvaterszeiten in den schlesischen Weberdörfern aussah
Vielleicht sagen unsere Leser und Heimatfreunde aus Kunzendorf zu Recht: "Von
unserem Heimatdorf hat bisher sehr wenig in unserer Zeitung gestanden." Und
da kommt gerade ein altes Zeitungsblatt aus dem Jahre 1938 zustatten, das uns
mancherlei von Kunzendorf und seinen Menschen, den Handwebern, berichten
will.
Ehe wir uns aber dem Inhalt dieses Zeitungsblattes zuwenden, schlagen wir
unser "schlesisches Ortsverzeichnis" des Jahres 1941 auf, dort finden wir
über Kunzendorf im Kreis Landeshut verzeichnet, daß es in jenem Jahre 475
Einwohner hatte, daß es von Landeshut der Kreisstadt 23 km entfernt war, daß
die Kunzendorfer nach Liebau einen Weg von 13 km zurücklegen hatten, daß sich
die Eisenbahnstation in Schatzlar befand, das den Kunzendorfern die Post über
Michelsdorf zugestellt wurde, daß sich für die evangelischen Einwohner des
Dorfes die evangelische Kirche ebenfalls in Michelsdorf - von Kunzendorf 4 km
entfernt - befand, und das sich die katholischen Dorfbewohner von Kunzendorf
zur katholischen Kirche nach Oppau hielten.
Nun ja, das ist schon mancherlei, was uns da über "Kunzendorf am Rehorn", wie
es auch manchmal genannt wurde, mitgeteilt wird. Nehmen wir uns unser
schlesisches Adreßbuch von 1907 zur Hand, so finden wir dort verzeichnet, daß
es damals in Kunzendorf zwei Gaststätten gab, sie wurden von den Gastwirten
Johann BÖER und Eduard SCHARF betrieben. Der Bäcker des Dorfes hieß Eduard
KLEINWECHTER und der Fleischer war Robert KLEINWECHTER. Es gab im Dorfe eine
Honigversandgeschäft das den guten "Riesengebirgs - Blütenhonig" verschickte,
dieses Geschäft gehörte einem gewissen BLÖSCHE. Dann nennen wir die
Kalkfabrik von Joseph KNEIFEL, die Mehlhandlung von Eduard KLEINWECHTER, wohl
denselben, den wir schon als "Bäckermeester" kennengelernt haben, und dann
gab es eine Mühle von Wilhelm SCHREIBER im Dorfe. Joseph KLEINWECHTER war der
Schlosser des Dorfes, sicher ein kunstfertiger und kunstgeübter Handwerker,
und Reinhold ROSE hieß der Dorfschmied, sicherlich auch keine unbedeutende
Persönlichkeit.
Als Schneider, die sich ganz sicher auch auf mancherlei, Künste mit der Nadel
verstandeten, warteten Konrad HOFMACHER und August LAHMER auf, und
Schuhmacher gab es im Dorfe nicht weniger als drei, Wilhelm SCHLAWIS,
Friedrich WINKLER und Heinrich WINKLER. Ob die drei bei einer Einwohnerzahl
von 563 Seelen, die für das Jahr 1907 angegeben sind, aber immer genügend
Arbeit in ihrem Beruf gehabt haben oder ob sie nebenher einen Webstuhl
bedienten und sich dadurch ein paar Pfennige zusätzlich verdienten?
Nun werden uns die vier Spezereiwarenhändler des Dorfes genannt! Unsere
Heimatfreunde aus Kunzendorf werden noch wissen, was das damals - im ersten
Jahrzehnt unseres Jahrhunderts - für kleine bescheidene dörfliche Läden
gewesen sind. Drei dieser Handlungen gehörten Kleinwechter, deren wir einige
bereits kennengelernt sind. Da gab es als Eduard KLEINWECHTER, Gustav
KLEINWECHTER und Julius KLEINWECHTER, die so einen Spezereiwarenladen
betrieben, einen vierten besaß und betrieb der bereits als Mühlereibesitzer
bekannte Wilhelm SCHREIBER.
Wir erwähnen nun noch den Stellmacher Heinrich HOFFMANN, den Tischler
Heinrich ERBER un den Ziegeleibesitzer Eduard SCHARF. Damit sind alle Namen
genannt, die unser altes Adreßbuch aufweist.
Schicksale der Handweberei
Und nun, nachdem wir uns mit Menschen und Namen des Dörfchens Kunzendorf
befaßt haben, wenden wir uns in den alten Zeitungsblatt zu, das uns zuerst
eine kleine Einführung in die Geschichte der Handweberei Schlesiens gibt.
"Die Hauptblütezeit der Handweberei in Schlesien reichte, auf langer
Tradition aufbauend, bis in die Zeit der schlesischen Kriege Friedrich des
Großen hinein, so daß, wenn von der Zeit der Handweberei in unserem
Riesengebirgsdörfern die Rede ist, meistens an diese Zeit gedacht wird.
Gewiß ist nicht zu verkennen, daß die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts die
Blütezeit der Leinenweberei und vor allem des Leinenhandels war. Denn mit dem
schlesischen Kriegen kam durch die Sperrung der Grenzen nach Österreich der
Handel nach Österreich, über die Levantehäfen hinaus, ziemlich plötzlich in
Fortfall. Zwar wurde versucht, neue Absatzmöglichkeiten zu erschließen,
vorzugsweise in die neue Welt hinüber, Versuche, denen auch keineswegs der
Erfolg versagt blieb, wenngleich dieser leider durchaus nicht den daran
geknüpften Erwartungen entsprach. Mit der Glanzheit der Leinenweberei war es
zweifellos vorbei, darüber konnte man sich nicht hinweg täuschen, wenn es
auch anfänglich nur in langsamen Tempo bergab ging."
Unaufhaltsamer Niedergang der Weberei
Diese Einleitung, die uns der Verfasser dieses Beitrages gibt ist
erforderlich, um dann die Verhältnisse, die uns von Kunzendorf am Rehorn
aufgezeigt werden zu verstehen. Der Chronist, den wir diesen Zeitungsbericht
verdanken schildert weiter:
"In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es schlimmer. Da mit der
Erfindung des mechanischen Webstuhls immer mehr Arbeitskräfte überflüssig
wurden, wußte man bald nicht mehr, wohin damit. Man experimentierte hier und
dort mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, um den brotlos gewordenen zu helfen.
Versuche, die, ohne Erfahrungen auf diesem Gebiet, an Erfolgen sehr gering
blieben.
An sich war der Gedanke begrüßenswert, mit der Beschäftigung der arbeitslos
gewordenen Weber gleichzeitig ein großzügiges Straßenbauprogramm zur
Durchführung zu bringen. Nur hatte man die Rechnung ohne den Wirt gemacht,
insofern, als die unterernährten Weber schwerer körperlicher Arbeit nicht
gewachsen waren und umfielen wie die Fliegen.
Es kam zu den bekannten Weberunruhen, die regierungsseitig Gegenmaßnahmen
auslösten. Aber es half alles nichts. Der mehr und mehr fortschreitende
Niedergang der Handweberei war nicht mehr aufzuhalten.
Abwegig wäre es zu denken, daß es nun mit der Handweberei zu Ende war. Sie
trat in den Hintergrund, zweifelsohne, war nicht mehr alleinige oder nahezu
alleinige Beschäftigung ganzer Landstelle, wie es vor dem Fall gewesen ist.
Dennoch wurde sie weiter betrieben. Und vorzugsweise in armen
Gebirgsgegenden, wie beispielsweise im Kreise Landeshut, gab es bis in die
allerneuste Zeit noch manche abseits vom Verkehr liegende und wenig bekannte
Dörfer, in denen immer noch gewebt wird (damals 1938 aus dem alten
Zeitungsblatt). Man kann sogar von einer zweiten Blüte der Handweberei, wenn
auch in bescheidenen Ausmaße als die erste, in jenen Gegenden sprechen, die
bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein dauerte."
Leinenhandel und Flachsanbau in Kunzendorf, Kreis Landeshut
Nun beginnt unser Chronist, auch uns von Kunzendorf zu erzählen, und was er
zu berichten weiß, ist durchaus nicht uninteressant:
"Im Dorfe Kunzendorf am Rehorn z.B. dem bekannten toten Winkel im Landkreis
Landeshut, am Kolbenkamm und Rehorn hingeschmiegt, hatte sich ein bedeutender
Leinenhandel entwickelt, der durch die Namen Christof HÜBNER, Benedikt ROSE,
Johann BAUER, HAERING, TRIEBENECK in Kunzendorf und dem dicht benachbarten
Oppau gekennzeichnet ist. Das waren nicht nur Händler, sondern auch
Fabrikanten, wie sie sich auch zu bezeichnen pflegten, und mit Recht.
Der für Leinwand als Grundstoff benötigte Flachs wurde in der Hauptsache in
der Gemeinde angebaut. Nach der Ernte wurde er gedörrt und gebrecht, nicht in
eigentlichen "Brechthäusern", wie es in vielen Orten geschah, sondern in
handwerklichen Kleinbetrieben des einzelnen, wurde dort auch an Ort und
Stelle gleich versponnen. Erst als der Flachsbau allmählich stark zurückging,
wurde das Garn also von einem Kunzendorfer Fabrikanten schon fertig bezogen,
also von einem der genannten Fabrikanten, die es von einer Spinnerei abnahmen
und an die einzelnen Weber ausgaben, die es als dann verarbeiteten."
Karger Lohn für viel Arbeit
Hören wir was der Chronist über die Lohnverhältnisse in Kunzendorf zu
berichten weiß:
"Die Verarbeitung geschah im Stücklohn, der allerdings sehr gering war. Für
das Schock Leinwand, also eine bestimmte Mengenanzahl von laufenden 60 m
Länge, wurden je nach der ausfallenden Güte der Fertigung ware 2,5 Mark bis 3
Mark gezahlt! Bei sehr fleißiger Arbeit, die in aller Frühe begann und bis
in den späten Abend hinein dauerte, war es allenfalls möglich, zwei Stück
oder vielmehr Schock Leinwand im Verlaufe der Woche herzustellen, was dann
einen Wochenverdienst von 6 Mark ergab. Wohlverstanden für die ganze Familie;
denn dieser Wochenverdienst war nur dann zu erzielen, wenn eine größere
Familie mit allen Familienmitgliedern daran mitarbeitete.
Das wurde vom Fabrikanten bekanntlich in Gebinden ausgegeben, die nun erst
gespult, oder wie es in der Webersprache hieß, gepfiffa werden mußten. Gerade
diese Arbeit, die sehr langwierig war und den Weber selbst von seiner
eigentlichen Arbeit dem Weben abhielt, verbleibe vorzugsweise Frau und
Kindern. Ein Einzelgänger hatte, wie hieraus hervor geht, nie zu einen
nennenswerten Verdienst kommen können. Dafür waren diese
"Familienarbeitsgemeinschaften", wenn man den Ausdruck dafür gelten lassen
will, nötig. Wohl gab es einzelne Familien, die besonders hochwertige Arbeit
leisteten, extra feine Garne verspannen und webten, dadurch auch zu
ausnahmsweise hohem Wochenarbeitslohn kamen, bis zu 8 oder gar 10 Mark. Das
aber waren sehr große Ausnahmen, die nur die Regel bestätigten, und als diese
waren 2 Taler in der Woche anzusehen.
Kartoffel im Eigenbau und etwas Futter für die Ziege
Karg war also der Verdienst, er blieb auch dann gering, wenn die ganze
Familie mitarbeitete. Wie mögen aber dann die Menschen ihr Leben gefristet
haben? Auch hierüber wird Auskunft gegeben:
"Das mit solchem geringen Verdienst nur eine Lebensführung von einer uns
heute fast unvorstellbaren Bedürftigkeit möglich war, leuchtet ein.
Durchführbar wohl nur dann, wenn jede Familie dabei noch ein paar Morgen Feld
- und wenn es nur zwei oder drei Morgen waren - ihr Eigen nannte, um ein paar
Kartoffeln anzubauen, etwas Futter für die Ziege oder, wenn es schon sehr
hoch kam, eine Kuh zu gewinnen. Die Kartoffel war die fast ausschließliche
Nahrung. Etwas Fett dazu, nur im bescheidenen Ausmaße, konnte schon als
ausgesprochener Luxus gelten.
Und wie stand es dann mit Fleisch, fragte ich einem Gewährsmann, den
früheren langjährigen Kunzendorfer Ortsvorsteher, der hoch in den Sechzigern
steht und über vieles aus eigenem Erleben heraus berichtet.
"Jou, doas goabs wull", aber wie sich gleich heraus stellte, selten genug mal
und wenn, dann viertel Pfund weise! Was wir nach heutigen
Ernährungsprinzipien als für die Ernährung unentbehrlich erachten, war
vielleicht gar nicht vorhanden, oder - wenn überhaupt - dann in heute uns
durchaus unzureichende erscheinenden Mengen. Bezeichnend ist, das eine
Fleischerei im Dorf gar nicht bestand. Bei den wenigen Bedarf wäre sie
unlohnend gewesen. Fleisch wurde im vorherigen Jahrhundert nur im
Haustierhandel von einem der Nachbardörfer aus in Viertel- und Halb-
Pfundstücken feil geboten. Auch Zucker war etwas sehr rares und wurde
ebenfalls nur viertelpfundweise eingekauft. Kaffee bei besonderen Anlässen
mal ein Lot."
Armut und bescheidene Lebensführung auch in anderer Hinsicht
Die Weber haben also nicht im Überfluß gelebt. Das ist uns bei diesen
Schilderungen gewiß sehr deutlich geworden. Und alle Armut offenbart sich
auch in der anderen Lebensführung und -haltung, worüber unser Chronist zu
berichten weiß:
"Wie mit der Ernährung stand es auch mit anderen, der heutigen Generation als
selbstverständlich und unentbehrlich erscheinenden Dingen des täglichen
Bedarfs. Schuhe und Strümpfe waren als ausgesprochener Luxus angesehen. Es
wurde fast immer barfuß gegangen, im Hause ebenso wie draußen, vom
beginnenden Frühjahr, wenn morgens das Eis noch in den Pfützen stand, bis in
den wieder einfallenden Winter hinein. Beim Hüten, an den taufeuchten, kalten
Morgen, wenn die Füße vor Kälte erstarren wollten, wurde manchmal das was
eine Kuh auf dem üblichen Stoffwechselweg hatte fallen lassen, schon im
nächsten Augenblick als hoch willkommenes Fußkissen betrachtet und benutzt.
Und erstaunlich: Man war größten Teils gesund dabei, ausdauernd und zäh.
Gesünder und durchschnittlich als die heutige Generation und erreichte hohe
Lebensalter.
Wie anspruchslos - rein physiologisch - der menschliche Organismus doch ist!
Anpassungsmäßig in einem Ausmaß, daß es wundernehmen muß."
Wohlstand der Leinwandfabrikanten
Den Webern er ging es also ärmlich. Was aber erfahren wir über das Schicksal
der Kunzendorfer Leinwandfabrikanten, deren Namen uns ja bereits aufgezählt
wurden.
"Die Leinwandfabrikanten kamen gleichzeitig in manchen Fällen zu erheblichen
Wohlstand, wovon heute, nach der Inflationszeit, auch nicht mehr viel
geblieben ist, an dem aber in diesen Dörfern manches ungewohnt stattliche
Haus, manches Grabmal, manche Kapelle - die Gegend ist rein katholisch - als
bleibende Erinnerung gemahnt. Allmählich wurde dann neben diesen dörflichen
Industriellen den immer mehr tonangebenden Landeshuter Textilunternehmern
geliefert, die zum Teil bessere Verdienste einräumten.
Die neuere Zeit ließ dann auch auf diesen versteckt liegenden Dörfern
schließlich nur noch als zusätzlichen Erwerbszweig zu; er ist als solcher
allerdings bis auf den heutigen Tag bestehen geblieben (1938). Wenn auch die
Anzahl der klappernden Webstühle in diesen Dörfern heute auch nicht mehr so
groß ist, so steht doch noch in jedem Haus ein Webstuhl auseinandergenommen
auf der "Schler", dem Hausboden, von wo er jederzeit wieder in Betrieb
genommen werden kann.
Da auch Angebot an Handwebarbeiten von verschiedenen größeren Betrieben aus
dem Kreis vorliegt, andererseits auch von der Bauernschaft die Handweberei
wenigstens zur Herstellung von Trachtenstoffen für den Eigenbedarf stark
gefördert wird, darf man annehmen, daß die Handweberei ihren Tiefpunkt
überschritten hat und von einem Dahinsterben heute erfreulicher Weise keine
Rede mehr sein kann."
Hier endet unser Zeitungsartikel von 1938 und zeigt die Verhältnisse vor dem
Ausbruch des zweiten Weltkriegs an. Die Vertreibung hat letztendlich diese
genannte Hoffnung letztendlich zunichte gemacht. Jedoch ist die schlesische
Handweberei nicht mehr aus der Geschichte wegzudenken.
Quelle:
zusammengestellt von Reiner Tannhäuser.
Ursprünglich veröffentlicht von Heinz Kulke im schlesischen Gebirgsboten am
10.3.1971.